Ouistreham (Wie im echten Leben) von Emmanuel Carrère. Frankreich, 2021. Juliette Binoche, Hélène Lambert, Louise Pociecka, Aude Ruyter, Steve Papagiannis, Didier Pupin, Léa Carne, Émily Madeleine, Patricia Prieur, Jérémy Lechevallier
Marianne ist eine Autorin, die sich in die Mindestlohnszene in Caen einschleust, um, wie sie später sagt, den Menschen und ihrem Leben eine Stimme, ein öffentliches Gewicht zu geben. Sie wird einer Putzkolonne auf den Fähren in Ouistreham zugeteilt, macht eine Menge erniedrigende Erfahrungen, findet aber auch Freundinnen und Solidarität, doch als ihre wahre Identität bekannt wird, verliert sie diese Freundschaften wieder, weil die unterschiedlichen Welten scheinbar nicht zusammengehören können.
Ganz neu ist das nicht, natürlich denkt man sofort an den unseligen Günther Wallraff und seine zweifelhaften Selbstinszenierungen, und auch Marianne balanciert auf einem schmalen Grat zwischen Selbstgerechtigkeit und Aufklärung, doch gerade da ist der Film ganz stark, denn er versucht gar nicht erst, diesen Zwiespalt aufzulösen oder abzuschwächen. Denn einerseits betreibt Marianne ein fragwürdiges Spiel, indem sie sich als eine Frau aus einem privilegierten Leben als jemand anderes ausgibt und damit das Vertrauen und die Gefühle anderer missbraucht. Andererseits jedoch wäre ihre Veröffentlichung auch eine Chance, diesen Menschen endlich das Gehör und die Aufmerksamkeit zu geben, die sie schon lang verdienen. Zudem bezahlt sie einen nicht geringen Preis für ihre Erfahrungen: Sie lernt gnadenlose Akkordarbeit kennen, lernt Respektlosigkeit und Demütigung kennen, willkürliche Entlassungen, miese Bezahlung, unmenschliche Arbeitsbedingungen, aber auch Solidarität und Freundschaft, und spätestens als sie sich mit Christèle anfreundet, gerät ihre Mission ins Wanken, denn sie ahnt schon, dass sie diese Freundschaft verlieren wird, wenn ihre tatsächliche Identität ans Tageslicht kommt, was früher oder später unweigerlich passieren wird. Am Ende gelingt es ihr nicht, eine Brücke zwischen zwei scheinbar unvereinbar getrennte Welten zu schlagen – sie veröffentlicht ihr Buch, gibt Autogramme und steht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, und Christèle und die anderen werden weiterhin Fährschiffe im Akkord reinigen, jeden Cent umdrehen müssen, um die Kinder durchzubringen und sich mit tyrannischer Bürokratie herumschlagen. Hat der Zweck diesmal die Mittel gerechtfertigt? Hätte es anders laufen können mit diesen beiden Frauen, hätte Marianne ihre Karten früher auf den Tisch legen und dennoch die gleichen Erfahrungen sammeln können? In Juliette Binoches wie immer ganz feinem Spiel sehe ich echte Gefühle, echtes Bedauern, doch auch die klare Einsicht, dass es für sie nur eine Episode bleiben kann, während Christèle sich verbittert und verletzt abwendet. Alles andere ein solch ein Ende wäre ein verlogener Kompromiss in Richtung Wohlfühlkino gewesen, doch damit hat dieser Film gottlob nichts zu tun.
Ein bisschen Ken Loach schimmert durch, wenn die Frauen auf ihrem täglichen Weg begleitet werden, durch die Gänge und Kabinen der Fährschiffe getrieben werden, von irgendwelchen Kontrollettis gegängelt und beschimpft werden, von einem arroganten Chef übel beleidigt werden. Von einem Job zum nächsten, immer am Rand des Mindestlohns entlang, dazwischen der Gang zu den Behörden und zwischendurch auch mal ein netter Abend mit den Kollegen. Ganz im Geiste Loachs wird auch der Aspekt des Zusammenhalts und der Solidarität betont als ein starkes Moment gegen das unterdrückende, düstere System.
Kein Film der großen Worte, eine in nüchterne, triste Bilder getauchte Geschichte aus einer tristen Welt, die man oft gar nicht so gern zur Kenntnis nehmen will, und so gesehen liegt schon darin sein Wert, dass er mich mal wieder dazu auffordert, diese Menschen ein wenig bewusster zu sehen, oder einfach mal anzusehen. (6.7.)