Der vermessene Mensch von Lars Kraume. BRD, 2023. Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek, Sven Schelker, Max Koch, Ludger Bökelmann, Leo Meier, Corinna Kirchhoff

   Es ist bestimmt nie zu spät, die Gräueltaten unserer glorreichen teutschen Kolonialarmee in Südwestafrika auf die Leinwand zu bringen – zumal man damit knapp hundertzwanzig Jahre später garantiert niemandem mehr weh tut. Ohne Frage ist dies natürlich ein ebenso unrühmliches wie wichtiges und aufschlussreiches Kapitel deutscher Geschichte mit einigen vorausdeutenden Motiven kommender Schrecken, und so gesehen kann ein Kinofilm darüber auf jeden Fall eine interessante Sache sein. Ob Kraume diese Möglichkeiten allerdings voll ausgeschöpft hat, möchte ich anzweifeln und kann nicht verhehlen, dass ich auch bei weiterem Nachdenken über „Der vermessene Mensch“ ein wenig enttäuscht bin.

  1896, 1904, 1920 – drei Stationen im Leben des Ethnologen Hoffmann. Anfangen tut er als ehrgeiziger Assistent, der auf eine Dozentenstelle hofft und deshalb auch gute Miene zu den rassistischen Exkursen seines Professors macht, auch noch anfangs, als es um die Vermessung vermeintlicher „Wilder“ aus Afrika geht, zu deren Zweck einige Herrero und „Hottentotten“ aus der Kolonie importiert und kurzfristig in Berlin untergebracht werden. Als er die Dolmetscherin Kezia kennenlernt, ändert sich sein Standpunkt allmählich, denn nicht nur verliebt er sich in die smarte Frau, sondern er erkennt auch, dass es sich bei den Afrikanern keineswegs um dumpfe Wilde handelt, und das macht er auch seinem Professor klar, was unweigerlich dazu führt, dass er nicht befördert wird. Jahre später nimmt er dann freiwillig an einem Feldzug in Südwestafrika teil, zum einen, um für seinen Chef und die sogenannte Wissenschaft fleißig Schädel zu sammeln, hauptsächlich natürlich, um Kezia wiederzusehen. Er erlebt Tod und Leid und Unrecht und Genozid, der seinen schrecklichen Höhepunkt im KZ auf Shark Island findet. Dort sieht er Kezia wieder, läuft vor ihr jedoch buchstäblich davon, weil er sich ihrem Leid nicht stellen kann. Wiederum Jahre später sehen wir ihn als Dozenten an der Berliner Universität, wo er seinerseits nun eben jene Rassenlehre propagiert, von der er sich einst zu distanzieren versucht hatte. Gefragt, wieso er seine Haltung ins genaue Gegenteil verkehrt hat, antwortet er: Ich war jung.

 

   Ich habe schon einige Filme von Lars Kraume gesehen, alle eigentlich gerne bis sehr gerne, aber eine solch schwache Regieleistung habe ich wirklich nicht erwartet. Der Film ist eigentümlich unrund, unausgegoren, holprig erzählt mit ständigen Verschiebungen der Themen und Prioritäten, was einzig dazu führt, dass nichts so richtig gründlich und für mich zufriedenstellend beackert wird. Weder die fatale „Forschung“ am lebenden Objekt, die geradewegs in den Faschismus führte, noch der Krieg gegen die Herrero und die Nama, und gottlob auch nicht die Liebesgeschichte zwischen Hoffmann und Kezia, die ja sowieso keine ist, jedenfalls keine auf Gegenseitigkeit beruhende. Die komplizierten historischen Hintergründe bleiben total unscharf, die allesamt flachen bis geradewegs klischeehaften Charaktere auch, die Dialoge sind zum Teil sehr hölzern und unsere Hauptfigur, für deren Schicksal ich mich während der gesamten zwei Stunden kein bisschen interessiert habe, zeichnet sich allein durch eine langweilige Blässe aus, sowohl die Figur im Film als auch der Schauspieler. Mir fehlt bei dem Ganzen der thematische und vor allem auch emotionale Fokus, und ich habe das umso stärker empfunden, als sich zwischendurch durchaus ein paar Szenen ergeben, in denen angedeutet wird, was daraus hätte werden können, nämlich starkes, politisch und humanistisch explizites und engagiertes Kino, das zudem an eine geschichtliche Epoche erinnert, die man, wie so einige andere auch, hierzulande gern in Vergessenheit geraten lässt. Die bedrückenden Szenen über die entwürdigenden Vermessungen der Afrikaner wären beispielsweise zu nennen, oder auch die Szenen aus dem Lager in der Lüderitzbucht, die natürlich den gedanklichen Bogen dreißig bis vierzig Jahre in die Zukunft dieser Ereignisse schlagen, genau wie das Ende, das die endgültige Anpassung der Wissenschaft an den vorherrschenden nationalistischen und rassistischen Geist andeutet. Kraume hätte tatsächlich viel erreichen können – doch er hat es leider nicht erreicht, er hat stattdessen einen Film inszeniert, der seinen Ambitionen und Absichten auf merkwürdige Weise ständig selbst im Wege steht und seiner an sich noblen Sache folglich keinen überzeugenden Dienst erweist. ˜˜» (5.4.)