Women talking (Die Aussprache) von Sarah Polley. USA, 2022. Rooney Mara, Claire Foy, Jessie Buckley, Judith Ivey, Sheila McCarthy, Michelle McLeod, Kate Hallett, Ben Wishaw, Frances McDormand

   Eine Mennonitenkolonie, abgeschieden gelegen irgendwo im Nirgendwo. Man lebt hier ohne Elektrizität und Technik nach den „alten Regeln“, und die besagen, dass Frauen Geschöpfe zweiter Klasse sind, ohne jeglichen Zugang zu Bildung und nur fürs Gebären, die Feldarbeit und den Haushalt zuständig. In der Hierarchie womöglich noch unter den Tieren. Die Männer betäuben und vergewaltigen Frauen, Mädchen, Kinder, es gibt ungewollte Schwangerschaften, Verletzungen, Traumata, Todesfälle. Ein paar Männer werden inhaftiert und die anderen ziehen los in die fern gelegene Stadt, um die Kaution zusammenzukriegen. Die Frauen haben nun höchstens zwei Tage Zeit, um eine Entscheidung zu treffen: Sollen sie bleiben und nichts tun, bleiben und kämpfen oder die Kolonie verlassen. Es kommt zu einer intensiven Diskussion zwischen einigen Frauen, jüngeren und älteren, verschiedene Standpunkte treffen aufeinander, und am Ende, als die Zeit drängt, beschließen sie, zu gehen und die Kinder mitzunehmen, auch die kleineren Jungs. Und so macht sich ein langer Trek aus Pferdefuhrwerken auf den Weg, und wir schreiben immerhin das einundzwanzigste Jahrhundert…

   Eine brillante Literaturverfilmung, die mich ein bisschen sprachlos gemacht hat, weil ich das, was ich hier sehe, eigentlich nicht glauben möchte und dennoch weiß, dass es auf einer wahren Begebenheit aus Bolivien beruht. Sarah Polleys meisterhafte Adaption empfindet den Roman von Miriam Toews für meinen Geschmack perfekt nach, überzeugt aber auch als eigenständiges Werk, findet Bilder, Farben, Gesichter, die auf ihre Weise fast noch stärker und suggestiver wirken als die Vorlage. Eine Parallelwelt, geprägt von archaischen Gesetzen und Strukturen, ein durch den vermeintlichen Glauben legitimiertes Patriarchat der allerschlimmsten, brutalsten Sorte, das eine Hälfte der Gemeinde zu rechtlosen Objekten degradiert. Die Frauen haben gelernt, mit dieser ständigen Entwürdigung zu leben und sie sogar als normal hinzunehmen, und nicht aufzubegehren, bis es zu den gewalttätigen Übergriffen kommt und die Männer eine Grenze überschreiten, die sogar die Frauen in ihrer Kolonie nicht hinzunehmen bereit sind. In der zentralen Szene versammeln sie sich auf dem Scheunenboden und ringen um die Entscheidung – mehrere Generationen, mehrere Meinungen und Temperamente. Die einen wollen bleiben und weiterhin erdulden, andere wollen die Männer vor Ort bekämpfen, die einflussreichste Gruppe schließlich setzt sich durch, weil sie die anderen davon überzeugen kann, dass ein offener Kampf gegen die Männer nicht zu gewinnen ist und sie nur darauf hoffen können, anderswo ein neues Leben aufzubauen. Auf dem Weg zu dieser Entscheidung müssen viele Hindernisse, Ängste, Befürchtungen und Differenzen ausgeräumt werden, und wie dieser Prozess in diesem Film Schritt für Schritt aufgerollt wird, ist schon sehenswert. Ich kann mir die Szenerie sehr gut als Theaterstück vorstellen, und Sarah Polley nimmt sich als Regisseurin ganz zurück, gibt die Bühne frei für die Schauspielerinnen, und daran tut sie natürlich ganz recht, denn die Schauspielerinnen sind sämtlich ganz großartig und passen sich auf ihre unaufdringliche und völlig uneitle Art hundertprozentig der allgemeinen Linie an. Die trüben, ausgebleichten Bilder lassen einerseits trotz allem einen klaren Blick auf die Verhältnisse in dieser grotesken Gemeinschaft zu, und konfrontieren mich andererseits als Zuschauer immer wieder mit dieser irrsinnigen Frömmigkeit, die diese Frauen zusammenhält ungeachtet aller Demütigungen und Gewalttaten. Auflehnung, Wut, Resignation, Empörung, Unsicherheit und vieles mehr werden verhandelt in den Gesprächen der Frauen, die auf der einen Seite sicher wissen, dass die Männer ihnen schlimmstes Unrecht antun, die verzweifelt versuchen, einen Ausweg zu finden aus ihrer grauenhaften Hilflosigkeit, die auf der anderen Seite jedoch nie ganz sicher sind, dass das, was sie vorhaben, der richtige Weg sein kann, denn gegen die Männer aufzubegehren heißt, gegen die gottgegebene Ordnung aufzubegehren. Sie wurden als Opfer und Menschen zweiter Klasse erzogen und sie haben diese Erziehung als selbstverständlich für ihr Selbstbild übernommen, und ganz offensichtlich wurden der Glaube und das Gemeindeleben benutzt, um genau diesen Status für immer aufrecht zu erhalten im Sinne der männlichen Herrschaft. Die Frauen nähern sich dieser Tatsache mit Ruhe und Gründlichkeit, aber auch mit beträchtlicher Angst, denn eine Befreiung aus dieser Struktur wäre zunächst ein freier Fall ins Nichts, verbunden mit der schweren Aufgabe, sich selbst einen neuen Sinn und neue Werte zu geben. Viele trauen sich das nicht zu, denn sie wurden von den Männern systematisch ungebildet gehalten, vermögen weder zu schreiben noch zu lesen. Ein perfide, grausame, völlig kranke Gemeinschaft, die sicherlich nicht umsonst ein wenig an die Colonia Dignidad erinnert und deren äußere Fassade nichts mit liebenswürdiger Ursprünglichkeit und der Rückkehr zu alten Werten zu tun hat, sondern einzig mit Gewalt und Unterdrückung.

 

   Sarah Polley hat daraus kein flammendes Pamphlet gemacht, sondern ein Drama, das ganz aus der Sicht der Frauen erzählt wird, in einem ganz besonderen Ton und mit einer ganz besonderen Haltung. Vieles wird nicht direkt und explizit angesprochen, sondern tritt zutage in der Art und Weise, wie diese Frauen miteinander umgehen, wie und was sie miteinander besprechen. Selten genug habe ich mal den Eindruck, dass eine Filmadaption der Vorlage in jeder Hinsicht gerecht wird und wirklich eine eigene Sprache gefunden hat. Solch ein Film ist das hier, und das ist schon etwas ganz Besonderes. ˜˜˜˜˜ (10.2.)