L’immensità (L’immensità – meine fantastische Mutter) von Emanuele Crialese. Italien/Frankreich, 2022. Penélope Cruz, Luana Giuliani, Patricio Francioni, Vincenzo Amato, Maria Chiara Goretti, Penelope Nieto Conti, Alvia Reale

   Aufwachsen im Rom der 70er in einer nicht funktionierenden Familie: Vater und Mutter haben sich entfremdet, er flüchtet in Affären und Rohheit, sie in Niedergeschlagenheit und die totale Hinwendung zu ihren drei Kindern. An denen ist das Scheitern der Ehe nicht folgenlos vorübergegangen: Die Jüngste isst zu wenig, der Mittlere isst zuviel und kackt regelmäßig in eine Zimmerecke, und die Älteste fühlt sich fremd in ihrem Körper und der Welt und möchte lieber Andrea sein statt Adriana. Ihr habt mich flach gemacht, wirft sie der Mutter einmal vor, und andererseits himmelt sie sie förmlich an. Hinter einem dichten Wald aus hohem Schilfgras entdecken die Geschwister eine von Arbeitsmigranten bewohnte Barackensiedlung, und Andrea schließt Freundschaft mit der flinken Sara, die ihrerseits Träume von einem anderen, besseren Leben hat. Manchmal flüchtet sich Andrea auch in romantische Träume voller Glamour und Musik, doch eines Tages muss die Mutter dann doch für längere Zeit in eine Klinik, und dann ist auch plötzlich die Siedlung mitsamt Sara verschwunden. Die Mutter kommt zwar wieder, doch die Probleme sind die gleichen geblieben, erst recht für Andrea, und so wird es auch bei ihren kleinen Fluchten bleiben.

   Wie oben bereits gesagt – Geschichten über Transmenschen scheinen groß in Mode zu sein, aber wie schon bei dem Bienenfilm aus Spanien hat mich das auch hier nicht groß gestört, denn auch Emanuel Crialese hat eine gefühlvolle Familiengeschichte mit starken dramatischen und poetischen Akzenten inszeniert. Andreas persönliche Identitätssuche fließt zusammen mit dem bedrückenden Alltag im Elternhaus, das ganz von der Enge, dem Patriarchat und den konservativen Rollenbildern der frühen 70er geprägt wird. Unvermeidlich ist das unaufhaltsame Verkümmern der eigentlich lebensfrohen, temperamentvollen Clara, unvermeidlich auch die regelmäßigen Auswege in die Welten der Fantasie, mal im Kino, mal in der Musik. Andrea steht letztlich immer wieder vor derselben Situation - er kann sich niemandem verständlich machen, er wird nirgendwo ernst genommen, und auch Sara ahnt nichts von dem, was eigentlich in ihm vorgeht. Das permanente Gefühl des Fremdseins gipfelt in seiner Vorstellung, er stamme von Aliens ab, und so pendelt er rastlos zwischen den Extremen auf der Suche nach einem eigenen Platz. Die enge Verbundenheit zur Mutter entsteht auch daraus, dass beide in ihrer Not nirgendwo erkannt werden, es wird verdeckt und verdrängt, Gewalt in der Ehe ist ebenso tabu wie erst recht das Mädchen Adriana im falschen Körper. Drumherum macht sich ein Land scheinbar auf in die Moderne, es werden riesige Häuserblocks hochgezogen, die Vorstädte rund um Rom wachsen und wachsen, doch die Welt der Familie Borghetti ist hermetisch, erstarrt, einzig allerdings in der Person des Vaters, der nach alter Sitte alle beherrscht und einschüchtert und dafür sorgt, dass weder Clara noch Andrea zur Entfaltung kommen.

 

   Crialese erzählt dies nicht als konventionelles Familiendrama, sondern als kunstvoll stilisiertes und durch viele überraschende Momente aufgewertetes Psychogramm, das sich weder an seiner eigenen Schwere verhebt noch sich in banales Wohlfühlgetue flüchtet. Diese Balance muss man erstmal so gut hinkriegen, wie das hier geglückt ist. Von diesem bemerkenswerten Filmemacher sehe und höre ich leider nicht sehr oft etwas, doch wenn, dann ist es immer etwas Besonderes. ˜˜˜˜» (1.8.)