Living (Living – Einmal wirklich leben) von Oliver Hermanus. England, 2022. Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, Tom Burke, Adrian Rawlings, Hubert Burton, Oliver Chris, Barney Fishwick, Patsy Ferran

   Der Vorspann ist wundervoll, eine hundertprozentig stilechte, liebenswert nostalgische Hommage an die 50er und ein London, das längst schon von der Moderne hinweggerafft worden ist. In diesem London, in dem verwahrloste Trümmerfelder noch allgegenwärtig sind, fristet ein älterer Herr namens Mr. Williams eine farblose, öde Existenz in einem farblosen, öden Job als Büromensch in der großen Londoner Zentralverwaltung. Antragsteller werden dort auf wahrhaft kafkaeske Weise schikaniert und von einer Abteilung zur nächsten geschickt, bis ihr Antrag schließlich auf irgendeinem hohen Aktenturm landet und für immer dort abgelegt bleibt, denn je höher der Aktenturm, desto größer das interne Prestige. Williams lebt unter einem Dach mit seinem Sohn und seiner bissigen Gattin, und dieses Zusammenleben ist genauso freud- und wortlos wie sein Arbeitsalltag im Büro. Williams scheint sich mit diesem Leben abgefunden zu haben, bis er eine Krebsdiagnose erhält und erfährt, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat. Nun möchte er Versäumtes nachholen, lässt sich erst halbherzig ins Nachtleben mitschleppen und vertieft später die Bekanntschaft mit einer jungen Ex-Kollegin, deren Lebensfreude ihn plötzlich inspiriert. Zu guter Letzt springt er zum ersten und einzigen Mal über seinen bürokratischen Schatten und boxt die Genehmigung eines Spielplatzes durch, die er zuvor wie gewohnt auf Eis gelegt hatte. Kurz darauf stirbt er, hinterlässt aber einige Menschen, in denen sein Handeln auf verschiedene Weise nachklingt.

   Wenn ich die wirklich sehr gekonnte optische Gestaltung mal weglasse, kommt mir der Film, der Akira Kurosawas Klassiker „Ikiru“ ziemlich getreu kopiert, ein bisschen dünn vor, gerade auch wenn ich den Namen des Drehbuchautors lese, denn immerhin ist dies Kazuo Ishiguro, und von dem hatte ich ehrlich gesagt ein wenig mehr Substanz erwartet. Der Fokus springt mehrmals, liegt erst auf einem jungen Neuling, der in Mr. Williams‘ Büroteam eingeführt und mit den dortigen Gepflogenheiten bekannt gemacht wird, wendet sich dann Mr. Williams zu, nach dessen relativ frühzeitigem Versterben mäandert er dann zwischen den Hinterbliebenen, wobei ich die letzten zehn Minuten als ziemlich überflüssig empfunden habe. Vielmehr hätte mich eine ausführlichere Beschreibung von Mr. Williams‘ Versuchen, irgendwie ins Leben einzusteigen, interessiert, oder auch nur eine etwas plausiblere Erklärung seiner plötzlichen Anwandlung, denn bis zu dem Arztgespräch weist nichts darauf hin, dass in ihm noch ein Funken Restenergie vorhanden ist, der Wille, aus seiner tristen Existenz ausbrechen zu wollen. Ich erfahre auch später zu wenig über ihn, kann nicht ergründen, woher dieser Wandel möglicherweise rührt oder was ihn motiviert. Die junge Miss Harris erscheint mir ein eher fragwürdiger Vorwand zu sein, denn Williams hatte sie kaum kennengelernt.

 

   So bleibt ein elegant gestyltes, hübsch melancholisches und bisweilen auch zart komisches Drama über Leben und Tod, von Billy Nighy natürlich exzellent gespielt, wobei er für meinen Geschmack viel zu wenig Stoff an die Hand bekommt, um seine Rolle richtig auszugestalten. Nicht schlecht alles in allem, aber ein wenig zu flüchtig, um einen nachhaltigen Eindruck bei mir zu hinterlassen. ˜˜˜ (24.5.)