The Ordinaries von Sophie Linnenbaum, BRD, 2022. Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Sira Faal, Noah Tinwa, Denise M’Baye, Pasquale Aleardi
Willkommen im Kino-Universum: Abstrakte Kulissen werden bevölkert von Figuren, die strikt hierarchisch gruppiert sind. Obenauf die Hauptfiguren, bunt, strahlend, hochmütig. Sie allein sind in der Lage, Gefühle abzurufen und zu empfinden, sie allein sind imstande, Musik zu erzeugen, sie haben die besten Dialoge, sie sind die Regenten. Eins tiefer die Nebenfiguren, farblos, eindimensional und schüchtern sondern sie nur Floskeln und Klischees ab und sind lediglich dazu da, den Hintergrund zu bevölkern, damit die Stars umso wirkungsvoller erstrahlen. Und ganz unten die Outtakes, die Schwarzweißen, die Herausgeschnittenen, die Fehlbesetzungen, die Unberührbaren der Filmwelt. Ausgestoßen, verachtet, verfolgt. Keine Texte, kein Ton, keine Ausstattung. Eine strikte, so gut wie undurchlässige Klassengesellschaft, und wer dennoch versucht, eine Stufe emporzuklettern, muss sich gewaltig ins Zeug legen, denn die Hauptfiguren sind höchst elitär eingestellt und bleiben vorzugsweise unter sich. So erlebt es auch Paula, die drauf und dran ist, die Prüfung zur Hauptfigur abzulegen (sie muss einen möglichst emotionalen Monolog halten), die dann aber kurz vor dem sicheren Ziel vom Wege abkommt, weil sie nämlich zugleich herauszufinden versucht, was mit ihrem Vater passierte, der einst angeblich in einem angeblich von den Outtakes initiierten „Massaker“ ums Leben kam. Je tiefer sie in die Geschichte einsteigt, desto gefährlicher und verwirrender wird es und desto klarer wird ihr auch, dass ihre Mutter ihr nicht die Wahrheit gesagt hat. Am Ende gibt es dann aber einen Auftritt, der auf ganzer Linie Mut macht, denn nicht nur steht Paula ganz offen zu ihrer lange geheim gehaltenen Identität als Schwarzweiße, sondern ihre Mutter tritt gleichfalls endlich und zum ersten Mal aus ihrem Schattendasein und es äußern sich plötzlich auch ganz viele Hauptfiguren, die offenbaren, dass sie lange nicht so perfekt und makellos sind, wie es die herrschende Klasse gern sähe.
Eine ganz wundervoll verschrobene, irrwitzige Komödie, die halt noch viel mehr ist als das, die nämlich zugleich Themen wie Klassenbewusstsein, Identität, Zivilcourage oder offizielle Geschichtsschreibung einbaut und zwar durchaus so, dass hier nichts seicht oder willkürlich oder aufgesetzt wirkt, sondern wie aus einem Guss. Die schräge Welt der Kinofiguren wird in ebenso liebevollen wie skurrilen Details ausgemalt, etliche Aha-Effekte sorgen immer wieder für Lacher, und allein im Happy End fehlte mir ein wenig jener subversiven Ironie, die die übrigen knapp zwei Stunden zuvor so unterhaltsam und komisch machte. Es ist so wenig möglich wie sinnvoll, all die vielen kleinen Einzelheiten aufzuzählen, an denen ich mich hier erfreut habe - man muss das selbst sehen und genießen, ganz einfach. Einen solch originellen und wirklich einzigartigen Film kriegt man selten zu sehen, vor allem hat es die Autorin/Regisseurin tatsächlich geschafft, ihre Vision total konsequent umsetzen und ein ebenso zitatenreiches wie intelligentes Paralleluniversum zu kreieren, randvoll mit tollen Einfällen und Überraschungen. Ein Film wie eine Wundertüte – und ich hoffe doch, es lag nur an der Ferienzeit, dass ich ganz allein im Kino saß, denn „The Ordinaries“ hätte wirklich ein größeres Publikum verdient. (4.4.)