Tótem von Lila Avilés. Mexiko/Dänemark/Frankreich, 2023. Naíma Sentíes, Montserrat Marañón, Marisol Gasé, Teresita Sánchez, Mateo García Elizondo, Iazua Larios, Saori Gurza

   Ein Familienfest wird vorbereitet: Tona hat Geburtstag, und seine Schwestern hauen sich richtig rein in Erwartung vieler Gäste im Hause des alten Vaters. Tona hat Familie, unter anderem die kleine Sol. Tona ist todkrank, lebt nur noch von Morphium und schmerzlindernder Therapie durch die aufopferungsvolle Pflegerin Cruz, doch jedes Mal gegen Monatsende geht der Familie das Geld aus, und man diskutiert, wie lange das noch so weitergehen soll. Dennoch richtet man ein großes, tolles Fest aus, auch wenn die Mittel sichtbar bescheiden sind. Tona reißt sich zusammen und macht mit, so gut er kann, und Sol erlebt wenigstens ein paar Momente mit ihren Eltern in inniger Dreisamkeit. Kurze Zeit später wird Tona gestorben sein.

   Dies ist nur ein ganz kurzes Abschiedsbild, begleiten wird mich das Bild zuvor: Die kleine Sol, wie sie mit ihren schwarzen Augen lange und ernst direkt in die Kamera schaut, und in diesem Blick liegt mehr, als viele Worte ausdrücken könnten. In diesem grandiosen Moment weicht die Regisseurin von ihrer bisherigen Strategie ab, die alles andere als konfrontativ war, sondern sich darauf verlegt hat, aus fast beiläufigen Beobachtungen, kurzen Sequenzen und Begegnungen ein dicht und fein gewobenes Netz menschlicher Beziehungen zu erschaffen, das auf eine ganz unaufdringliche Weise eine fast magische Intensität entfaltet. Das unüberschaubare Haus, den vielen Zimmern und dem Garten schafft einen reizvollen Kontrast zwischen einem scheinbaren Kammerspiel und einer viel größeren Welt, die sich die kleine Sol zu erschließen versucht. Vieles von dem, was sich hier ereignet, wird aus ihrer Sicht geschildert, sie ist über lange Strecken unser Vermittler, doch ihr Blick ist stark getrübt von einer großen Angst und Traurigkeit über den schlimmen Zustand ihres Vaters, der oft nicht die Kraft hat, mit ihr zusammen zu sein, was sie missdeutet als Zurückweisung. Deshalb gibt es auch vieles, was sie nicht mitbekommt, und deshalb weitet die Regisseurin immer mal wieder sehr geschickt die Perspektive und so erfahren wir über allerlei Konflikte und Krisen, die diese Familie belasten, Geldsorgen, Krankheiten, Alkohol und eben die Frage, wie lange die Therapie für Tona noch getragen werden kann. Wir sehen, was Sol nicht sieht: Bei Nacht und Nebel werden Tonas Bilder weggeschafft, vermutlich um verkauft zu werden und damit die größte Not abzufedern. Die eine Schwester schaut ständig zu tief ins Glas, der Vater (selbst offenbar an Kehlkopfkrebs erkrankt) reagiert ruppig und genervt auf den Trubel, und die Pflegerin bemüht sich nach Kräften, Tona für eine kurze gemeinsame Zeit mit seiner Familie fit zu machen. Was ihr auch zu gelingen scheint. Diese wenigen kostbaren Augenblicke zu dritt sind von wunderbarer Schönheit und Zärtlichkeit, wie auch viele kleine Szenen zwischendurch, denn es geht ja letztlich um die großen Dinge des Lebens: Die Liebe und den Tod. Erstere wird stets von letzterem überschattet, doch auch im Zusammenhalt der Familie ist sie immer wieder spürbar und gibt Tona eine große Geborgenheit im Sterben.

 

   Lila Avilés muss kein großes Drama bemühen, sie hält den Film betont einfach, zeigt Menschen statt Stars und entwickelt ein Familienporträt, das der Komplexität solcher Beziehungen auf bemerkenswerte Weise gerecht wird. Für gut neunzig Minuten entsteht ein faszinierender, wirbelnder Sog, der umso stärker wirkt, da er sich gar nicht besonders darum zu bemühen scheint. Große Filmkunst nennt man sowas. ˜˜˜˜˜ (20.11.)