L’Abbé Pierre: Une vie de combats (Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre) von Frédéric Tellier. Frankreich, 2023. Benjamin Lavernhe, Emmanuelle Bercort, Frédéric Weis, Michel Vuillermoz, Malik Amraoui, Chloé Stefani, Xavier Mathieu, Christophe Favre
Ein beinahe fünfundneunzig Jahre langes Leben in einen einzigen Film zu quetschen ist schon eine besondere Herausforderung, erst recht, wenn es ein Leben im zwanzigsten Jahrhundert ist, das heißt, höchstwahrscheinlich randvoll mit Ereignissen und Erlebnissen. Siebzig dieser fünfundneunzig Jahre werden hier auch tatsächlich gestreift, eine Entscheidung, die ich persönlich nicht so geglückt finde. Es geht also los mit Kloster, Krieg und Résistance, ein Rausschmiss, ein Zug jüdischer Flüchtlinge durch die Berge zur Schweizer Grenze, Feuergefecht, weitere Aktivitäten des Widerstands und vor allem das erste Zusammentreffen mit Lucie Coutaz, die ihm fast vierzig Jahre lang zur Seite stehen sollte. In den 50ern dann die Gründung von Emmaüs, der Beginn des rigorosen Engagements gegen Armut, Hunger, Obdachlosigkeit angesichts einer zum Teil desolaten Situation im Nachkriegsfrankreich und der Beginn einer sehr speziellen Hassliebe zwischen Abbé Pierre und dem französischen Establishment. Furchtlos geht er sie alle an - die Politiker, die Bonzen, die Reichen und Mächtigen, stichelt und polemisiert und appelliert so lange, bis sich endlich etwas bewegt, macht sich auch die Medien zunutze, wird auch mal als Popstar verspottet und wandelt in der Tat häufig auf dem schmalen Grat zwischen völliger Selbstlosigkeit und durchaus provokanter Selbstdarstellung. Der französische Originaltitel weist ganz richtig auf die vielen Kämpfe hin, die dieser Mann gefochten an, eine scheinbar endlose Serie, bis ins ganz hohe Alter, wo er sich noch genauso radikal, kompromisslos und öffentlichkeitswirksam präsentiert.
Dazwischen Medientriumphe, Rückschläge, ein paar Verbalentgleisungen, ein Ausstieg und eine Rückkehr. Der Mensch hinter dem angenommenen Namen Abbé Pierre allerdings wird für mich nur wenig sichtbar, zu Beginn vielleicht ein wenig und dann nochmal ganz zum Schluss, wenn er an der Seite seines lange schon verstorbenen Freundes darüber sinniert, ob er Erfolg gehabt, sein großes Ziel erreicht habe, und natürlich sagt er selbst, er habe den Menschen nicht ändern, habe die grundsätzliche Ungerechtigkeit in der Welt nicht ein wenig abmildern können, während sein Freund ganz anders zu dem Ergebnis kommt, er habe etwas sogar noch viel Größeres getan, er habe die Menschen nämlich trotz ihrer gewaltigen Unzulänglichkeiten stets geliebt. Ein sehr schön ruhiger, poetischer Ausklang einer ansonsten überaus bewegten und auch ein wenig überlangen Erzählung, die ein paar Jahrzehnte im Schweinsgalopp abhakt und sie deshalb besser gleich ausgespart hätte, sich anderen Themen dann aber doch mit der gebotenen Gründlichkeit widmet, vor allem natürlich der Wohltätigkeitsorganisation Emmaüs, dem bedeutendsten Vermächtnis des Abbé Pierre. Über einige Digne hätte ich gerne mehr erfahren, vor allem über seine Stellung in Frankreich, über die vielen kontroversen, die seine Person umgaben. Wenn der Film über zweieinviertel Stunden lang ist, hätte diese Zeit meiner Ansicht nach etwas sinnvoller genutzt werden können unter Auslassung einiger Randepisoden. Sicherlich werden Franzosen diesen Film mit anderen Augen sehen, denn dort ist Abbé Pierre eine enorm populäre und vieldiskutierte Persönlichkeit, während er hierzulande nicht annähernd so bekannt ist und unsereiner deswegen ein wenig mehr Grundwissen benötigt hätte.
Hervorzuheben ist ansonsten der fantastische Hauptdarsteller Benjamin Lavernhe, der mich umso mehr beeindruckt hat, da er wie gesagt als Mensch gar nicht mal soviel zu tun bekommt. Und abgesehen von der Frage, ob dies nun eine besonders geglückte filmische Biographie ist, muss ich auf jeden Fall sagen, dass der Film ein sehr starkes und deutliches Statement für Menschlichkeit, Offenheit, Barmherzigkeit und Liebe ist, und dass der Name Le Pen als genauer Gegenentwurf zu diesen Werten einmal sehr deutlich genannt wird. Gemeint ist zwar der Vater der aktuellen Faschohexe, aber damit kommt der Film auf jeden Fall auch ganz bewusst und betont in der Gegenwart an, und wenn man sich ansieht, was gerade in Frankreich los ist, dann ist solch ein Zeichen mehr als gut und wichtig. (8.7.)