Io Capitano (Ich Capitano) von Matteo Garrone. Italien/Belgien/Frankreich, 2023. Seydou Sarr, Moustapha Fall, Issaka Sawadogo, Bamar Kane, Ndeye Khadi Sylla, Hichem Yacoubi, Doodou Sagna

   Seydou und Moussa sind Cousins, leben in Dakar und träumen von der Karriere als Musiker im fernen Europa. Hinter dem Rücken ihrer Mütter verdienen sie Geld durch verschiedene Jobs, und obwohl Seydou in letzter Minute zu zaudern und zögern beginnt, machen sie sich eines Tages auf den Weg in Richtung Tripolis, mehrere tausend Kilometer entfernt, durch Mali, Niger und die Sahara. Und was losgeht als das Abenteuer zweier unbekümmerter, lebenshungriger Jungs, entwickelt sich sehr bald zu einer sprichwörtlichen Reise in die Finsternis. Die zunehmend hilflosen Reisenden mit Ziel Italien werden von skrupellosen, brutalen Geschäftemachern ausgeplündert, misshandelt, gefoltert, getötet oder als Billiglohnarbeiter verkauft. Die beiden Jungs werden getrennt, als sogenannte Rebellen auftauchen und die Reisenden um ihre letzten Geldreserven berauben, und Seydou überlebt nur mithilfe eines älteren Mannes, der ihn aus dem libyschen Folterknast schließlich nach Tripolis bringt. Dort trifft er wie durch ein Wunder Moussa wieder, der auch fliehen konnte, jedoch angeschossen wurde und dringend ärztliche Hilfe benötigt. Seydou macht eine Passage nach Italien klar, doch nur unter der Bedingung, dass er selbst das Schiff steuert. Als Capitano wächst der Sechszehnjährige auf der tagelangen Fahrt plötzlich über sich hinaus, steht einer hochschwangeren Frau kurz vor der Niederkunft bei, schlichtet immer wieder Streit und Panik, rettet Verdurstende aus dem Maschinenraum und bringt tatsächlich alle Passagiere des erbärmlichen Seelenverkäufers lebend nach Sizilien, wo er sich völlig entkräftet aber stolz ins Licht der italienischen Küstenwache reckt. Schon jetzt eines der unvergesslichen Schlussbilder des Kinojahres.

   Eine Reise durch unsere Welt von heute, wo der Mensch noch immer, wie seit Anbeginn der Zeit, dem Menschen ein Wolf ist. Keine Reise ins Licht wohlgemerkt, so wie die beiden Jungs aus dem Senegal es erhoffen – wir wissen es besser, ohne dass es in diesem Film ausdrücklich gesagt wird. Der Film endet mit dem Bild der Afrikaner, die zumindest lebend in Italien anlanden – was im Weiteren mit ihnen geschehen wird, bleibt vollkommen offen und wäre Gegenstand einer weiteren Geschichte. Diese hier erzählt unter anderem vom Überlebenswillen, von Freundschaft und Menschlichkeit und unmenschlicher Umgebung. Garrone beschönigt nichts, zeigt grausame, schreckliche Bilder von Tod und Gewalt, zeigt eine infame Industrie, die sich allein vom Schicksal der Migranten ernährt, und doch ist dies am Ende viel eher ein Film der Hoffnung, und das hat mich besonders beeindruckt. Hoffnung ist in erster Linie das, etwas viele dieser Menschen unbeschreibliche Strapazen überstehen und schlimmste Misshandlungen ertragen lässt. Seydou zeigt uns auf bewegende und eindringlichste Weise diese Verwandlung: Aus dem Jungen, der aufbricht, u mein Star werden und der nicht die entfernteste Vorstellung davon hat, was ihn auf diesem Weg erwarten könnte, wird ein Mensch, der früher oder später in den Überlebensmodus schaltet, ohne jemals seine Menschlichkeit zu verlieren. Er muss eine alte Frau in der Wüste zurücklassen und er lernt daraus, gibt die Suche nach Moussa solange nicht auf, bis er ihn in Tripolis wiederfindet, und auf dem Schiff erklärt er immer wieder seien Entschlossenheit, jedes einzelne Leben zu retten und sie alle unversehrt nach Europa zu bringen. Darin mag etwas Utopisches, Fantastisches liegen (Garonne baut zwischendurch auch eine oder zwei fantasiegetriebene Sequenzen ein), aber es ist eine grandiose Geste für das Leben und gegen den Tod, für die Menschlichkeit und gegen die Unmenschlichkeit der Geschäftemacher, und diese Geste wird in starken, aber niemals pathetischen Bildern erzählt. Garrone bindet seine Geschichte zu eng an die Wirklichkeit, findet zu reale Schauplätze und Akteure (vor allem Seydou Sarr spielt unglaublich), um sich verdächtig zu machen, einfach nur eine spekulative Gutmenschenstory abzuliefern. Der Film ist mitreißend, erschütternd, bewegend und manchmal himmelschreiend, aber er verliert nie den Blick auf die Gegenwart und die Wirklichkeit, und indem er einige wenige Schicksale hervorhebt, nimmt er nie für sich in Anspruch, stellvertretend für alle zu sein. Die vielen Toten am Wegesrand sind unübersehbar, die gierige, zynische Brutalität der Menschenhändler ebenso. Und die Gewissheit, dass Europa vor allem für die Migranten aus Afrika nicht gerade der gelobte Kontinent geworden ist, lässt uns nicht eine Sekunde an ein Happy End denken, sondern daran, dass all die Menschen, die Seydou soeben heil übers Mittelmeer gebracht hat, nun einer mehr als ungewissen Zukunft entgegensehen.

 

   Nach „Green Border“ ist dies bereits der zweite herausragende Film zum Thema Migration in diesem Jahr. Er nähert sich von einer etwas anderen Seite an, ist jedoch auf seine Weise genauso wirkungsvoll und aussagestark und relevant wie Hollands Film. Es scheint schon fast schizophren, dass menschliches Leid immer wieder große Kunst hervorbringt, aber in diesem Fall ist das auch so. ˜˜˜˜˜ (10.4.)