Memory (#) von Michel Franco. Mexiko/USA, 2023. Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Brooke Timber, Merritt Wever, Josh Charles, Elsie Fisher, Jessica Harper
Der widerliche Vulgärproll, der mal wieder für die Präsidentschaft kandidiert, wird wahrscheinlich angeekelt das Näschen rümpfen: Eine Ex-Alkoholikerin und Missbrauchsopfer und ein Dementer? Sollen das etwa unsere neuen Superhelden sein? No fucking way! In der Tat präsentiert dieser Film ein Gesellschaftsbild, das nicht gerade kompatibel ist mit der coolen, hippen Siegermentalität à la Tom Cruise und Co., und darin liegt für meinen Geschmack auch seine größte Attraktivität. Dies ist ein höchst verletzliches, verletztes, traumatisiertes Amerika, ein hilfebedürftiges, verunsichertes, konfliktbelastetes, aber eben auch bis zu einem gewissen Grad solidarisches Amerika, für das es trotzdem oder eben gerade deswegen eine Hoffnung zu geben scheint.
Und dies nicht in Form einen triumphalen Happy Ends, sondern in Form einer vorsichtigen Umarmung, die noch gar nichts bedeuten muss, denn der demente Saul steht unter der fürsorglichen Bewachung seines Bruders (unsere hiesige WTG-Behörde würde sofort was von Freiheitsentziehung krähen…), und Sylvia, die als kleines Mädchen von ihrem Vater missbraucht wurde und nun seit dreizehn Jahren, seit der Geburt ihrer Tochter nämlich, trocken ist, hat ebenfalls alle Hände voll zu tun, ihr Leben nicht in alle Einzelteile zerspringen zu lassen. Immerhin kämpft sie und hat gelernt, sich entschlossen gegen ungute Einflüsse abzugrenzen. Nach langen Jahren schafft sie es, ihre Mutter zu konfrontieren, die konsequent weggeschaut und negiert hat, und schafft es auch, dass sich die Schwester endlich bekennt und sich auf ihre Seite stellt. Im Gegensatz zu Saul hat sie ihr Leben wenigstens ein bisschen selbst in der Hand, auch wenn sie sich in ihrer Wohnung verbarrikadiert, leichte Anzeichen einer Sozialphobie zeigt, und ihre erste sexuelle Begegnung mit Saul sich in ihrer Mimik in einer Mischung aus Panik und Neugier widerspiegelt. Er hingegen erinnert sich nicht mal an das, was vor ein paar Stunden geschah, aber daraus wird jetzt weder ein weiteres Feelgoodrama mit Handicap gemacht noch ein wissenschaftlich fundierter Thesenfilm, seine Demenz wird vielmehr ganz organisch integriert in eine Gemeinschaft, die trotz aller Defekte und wirklich tiefen Risse immer noch darum bemüht ist, einen gewissen Zusammenhalt zu erhalten. Sinnbild dafür ist Sylvias Tochter Anna, der einerseits seit frühester Kindheit vermutlich fast Unerträgliches aufgebürdet wird, die andererseits aber eine bemerkenswerte Kraft und Reife entwickelt hat, vermutlich weil ihr gar nichts anderes übriggeblieben ist und sie sich mit ihrer Welt arrangiert hat, so wie es die meisten Menschen notgedrungen tun. Sowohl sie als auch Sauls Bruder repräsentieren die sprichwörtliche andere Seite der Medaille, die Seite der engsten Angehörigen, die trotz aller täglichen Belastung, trotz aller Rückschläge, Frustrationen und Schmerzen nicht weichen, nicht flüchten, sondern standhalten, auch wenn sie weißgott nicht alles richtig machen, aber besonders darum wird ihnen hier ein kleines, stilles Denkmal gesetzt.
Michel Franco hält sich als Regisseur sehr zurück, der Film ist sparsam, effektfrei inszeniert und ganz auf die Menschen und ihre Situation fokussiert, was auch in dem eindrucksvoll uneitlen und sachdienlichen Spiel der Darsteller zu, Ausdruck kommt. Eine Art Independentfilm seinem Aussehen nach zu urteilen, eine bemerkenswerte Zustandsbeschreibung, eine im positiven Sinne anrührende Geschichte und alles in allem einer der wenigen wirklich guten US-Filme, die mir in den letzten Jahren untergekommen sind. (7.10.)