One life von James Hawes. England, 2023. Anthony Hopkins, Johnny Flynn, Lena Olin, Helena Bonham Carter, Romola Garai, Alex Sharp, Juliana Moska, Ziggy Heath, Jonathan Pryce
„Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“ – dieser eher im Zusammenhang mit Oskar Schindler benutzte Satz aus dem Talmud trifft in gleichem Maße auch auf Nicholas Winton zu, nur dass dieser, genau wie Schindler, ja nicht nur ein einziges Leben rettete, sondern sehr viele, 669 um genau zu sein. So viele Kinder, überwiegend jüdischer Herkunft, konnten er und seine vielen Helfer 1938 und 39 in insgesamt acht Zügen aus Prag herausschaffen. Der letzte, der neunte, sollte just an jenem Tag in Richtung Großbritannien abfahren, da die Deutschen in Polen einmarschiert waren und sich auch im längst besetzten Prag Chaos und Gewalt breitmachten, weshalb es jener Zug und zweihundertfünfzig Kinder nicht schafften. Auch fünfzig Jahre später ist Winton noch nicht darüber hinweggekommen, dass er diese Kinder nicht retten konnte, und so bedarf es schon hartnäckiger Bedrängung durch seine Ehefrau, um ihn endlich dazu zu bringen, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne aufzuräumen, in den randvollen Archiven, die seine Vergangenheit beinhalten, und auch in sich selbst, was bedeutet, endlich zuzulassen, dass seine Geschichte öffentlich gemacht wird. Dies geschieht im Rahmen einer eigentlich als eher trivial geltenden TV-Show: Nicht nur wird dort seine Geschichte erzählt, sondern er trifft nach all den vielen Jahren einige jener Menschen wieder, denen er einst das Leben gerettet hat und die ihm laut Abspann bis zu seinem Tod eng verbunden bleiben sollten.
Angesichts einer solchen Story tut ein Regisseur sehr recht daran, sich zurückzunehmen und aufdringliche Effekte und Allüren tunlichst zu vermeiden. Daran hat sich James Hawes zu einhundert Prozent gehalten. Sein Film ist gradlinig und gediegen inszeniert, doch Drehbuch und Regie haben ganz augenscheinlich genau verstanden, worauf es hier ankommt und worauf sie sich verlassen können. Zum einen ist der emotionale Gehalt dieser wirklich sehr bewegenden Erzählung an sich schon derart intensiv, dass es nun wirklich keiner Geschmacksverstärker mehr bedarf, dass diese im Gegenteil extrem schädlich gewesen wären: Der junge Börsianer, der ziemlich unvorbereitet in eine Stadt gerät, die von Flüchtlingen überlaufen wird. Not, Elend und Angst bestimmen das Straßenbild, eine Flüchtlingsorganisation leistet engagierte Hilfe, und dann kommt dieser junge Brite (selbst aus einer jüdisch-deutschen Familie stammend, also mit Migrationserfahrung ausgestattet) und fordert kategorisch, man müsse zumindest die Kinder aus der Tschechoslowakei herausschaffen und nach England bringen, und lässt keine Einwände gelten. Wir können nicht einfach so zusehen, sagte er immer wieder, wir müssen etwas tun. Ein verzweifelter Kampf gegen die Zeit beginnt, denn der Einmarsch der Deutschen und damit die Grenzschließung sind jederzeit zu befürchten. Die phlegmatischen britischen Behörden müssen mobilisiert, Visa und Pflegeeltern beschafft, Züge organisiert werden. Hier entfaltet der Film große Dichte und Spannung, macht nachvollziehbar, wieviel auf dem Spiel stand und wie enorm gefährlich die gesamte Aktion war. Zum anderen sind da natürlich die Schauspieler, die für sich genommen nicht nur hervorragend sind, die darüber hinaus auch ausgezeichnet in Szene gesetzt werden, nämlich genau so mannschaftsdienlich und uneitel, wie der Film im Ganzen daherkommt. Auch ein Anthony Hopkins, der einmal mehr eine bemerkenswerte Darstellung zeigt, fällt nicht irgendwie aus dem Rahmen, und das hätte zu Mr. Winton auch ganz und gar nicht gepasst.
Man könnte also mosern, der Film sei bieder und uninspiriert gemacht, man könnte auch sagen, er stelle sich ganz in den Dienst der Geschichte, um diese damit zur vollen Wirkung kommen zu lassen. So würde ich das auch sehen. Ein sehr beeindruckender, im positiven Sinne anrührender Film über einen scheinbar sehr beeindruckenden Menschen, ein Licht in der dunklen Zeit, und vielleicht wäre es wichtig, uns noch von anderen solcher Lichter wissen zu lassen, denn die wird es sicherlich geben. (5.5.)