The Outrun von Nora Fingscheidt. England/BRD, 2024. Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Saskia Reeves, Stephen Dillane

   Rona kommt im fernen London nicht vom Alkohol los, kriegt ihr Studium nicht fertig und setzt ihre Beziehung zu Daynin in den Sand, weil der mit ihren ständigen Ausrastern nicht mehr klarkommt. Sie nimmt an Sitzungen der Anonymen Alkoholiker teil, schafft auch eine längere Zeit ohne Trinken, doch es kommen immer wieder Rückfälle. Sie zieht sich schließlich nach Orkney zurück, wo ihre Eltern leben, aber leichter wird’s dort auch nicht, denn ihr Dad ist bipolar und haust ganz allein für sich in einem Caravan, und Mom hat sich der Religion zugewandt, und das kann Rona immer nur in ganz kleinen Dosierungen ertragen. Schließlich zieht sie sich noch weiter zurück auf die kleine nördliche Insel Papa, wo nur eine Handvoll Menschen lebt und sie in einem einfachen Haus Unterkunft findet. Ganz langsam und allmählich findet sie hier wieder zu sich, findet eine neue Perspektive und unternimmt einen weiteren Versuch, vom Alkohol loszukommen, der diesmal vielleicht sogar gelingt.

 

   Ganz so linear wird mir diese Geschichte allerdings nicht erzählt, im Gegenteil. Nora Fingscheidt hat ein komplexes und emotional äußerst vielgestaltiges Puzzle gestaltet, mischt die Zeitebenen und die Handlungsräume häufig, nicht nur zwischen London und Orkney, sondern auch zwischen Rona als erwachsener Frau und Rona als kleines Mädchen, das mit der schlimmen psychischen Erkrankung ihres Vaters konfrontiert wird. Auch als Erwachsene wird Rona ordentlich durchgeschüttelt. Augenblicke des Friedens oder gar des Glücks sind selten, Wut, Verzweiflung, Kontrollverlust im Rausch und vom Alkohol entzündete Euphoriemomente scheinen die Oberhand zu haben, und auch auf Orkney ist es für sie zunächst schwierig, eine Art Balance zu finden, da ihr Verhältnis zu den Eltern alles andere als unbelastet ist und sie mit sich selbst alle Hände voll zu tun hat. Erst das Exil auf der kleinen, fast menschenleeren und vor allem vom ewigen Sturm zerzausten Insel lässt sie wieder Boden unter den Füßen finden, und allein mit sich, ihren weiterhin stark schwankenden Gefühlszuständen und ihren Erinnerungen arbeitet sie sich mühsam und mit viel Kraftaufwand wieder an die Wasseroberfläche, und Fingscheidts Regie und Saoirse Ronans fulminante Performance machen diesen Weg zu einem wirklichen Erlebnis. Die faszinierenden Bilder der wilden Inseln sind dabei niemals Selbstzweck, sondern kommentieren, kontrastieren oder korrespondieren, und wenn Rona ihrer skeptischen Mutter am Ende erklärt, sie werde sich nun ganz dem Studium der Algen widmen, erscheint dies nicht nur folgerichtig, sondern auch absolut nachvollziehbar. Raue Poesie, reichlich menschliche Extremsituationen und der Kampf um Heilung, um eine Zukunft werden hier vermischt zu einem sehr eindrucksvollen Ganzen, einem optisch, akustisch und emotional sehr berührenden und mitreißenden Film, der wie gesagt von Ronans Präsenz lebt, die hier ihre bisher wahrscheinlich stärkste und erwachsenste Rolle hat und sie mit Bravour gestaltet. Diese Welt hier ist ziemlich spröde und gar nicht leicht zugänglich, und vieles von dem, was ich sehe, bleibt mir auch fremd, aber im Grunde sehen wir hier eine Frau, die jeglichen Halt verloren hat und ihn nun wiederfinden will, und wie das hier geschildert wird, ist schon extrem sehenswert. Rona ist eine komplizierte Persönlichkeit, durchaus nicht immer eine Sympathieträgerin, durchaus nicht immer leicht zu begreifen, doch genau darin liegt ja auch der Reiz, und sie wird mir hier so präsentiert, dass ich nicht anders kann, als mich mit ihr auseinanderzusetzen, wenn ich nicht vorzeitig das Kino verlassen will. Und davon kann natürlich gar keine Rede sein, denn dies ist ein toller Film, der qualitativ jederzeit an Fingscheidts fabelhaften „Systemsprenger“ anknüpfen kann und mich gespannt macht auf ihre nächsten Projekte. ˜˜˜˜˜ (18.12.)