Lacci (Was uns hält) von Daniele Luchetti. Italien, 2020. Alba Rohrwacher, Luigi Lo Cascio, Laura Morante, Silvio Orlando, Linda Caridi, Giulia De Luca, Giovannino Esposito, Giovanna Mezzogiorno, Adriano Giannini

   Vandas und Aldos Ehe ist schon lange nicht mehr die beste, beide leben mit ihren Kindern Anna und Sandro in täglicher Routine erstarrt, ihr Umgang ist von latenter Unzufriedenheit und wachsender Lieblosigkeit geprägt. Dennoch reagiert Vanda extrem stark, als Aldo ihr gesteht, er habe mit einer anderen Frau geschlafen und sei auch nicht sicher, wieviel sie ihm bedeutet. Je ausweichender, feiger und sprachloser er sich verhält, desto heftiger insistiert sie, dass er sie und die Kinder nicht verlassen könne, denn schließlich gebe es ja zwischen ihnen dieses Ehegelübde und daran müsse auch er sich halten. Er aber hat sich in die junge Lidia verliebt und lässt Vandas verzweifelte Versuche, ihn zu einer klaren Aussprache zu bringen, abblitzen. Je hysterischer sich Vanda aufführt, desto mehr geht er auf Distanz – und zwischen ihnen stehen Anna und Sandro, die sehr am Vater hängen und vom exzentrischen Verhalten der Mutter, die sich in suizidaler Absicht gar aus dem Fenster stürzt, mehr und mehr befremdet und verängstigt sind. Aldo scheint mit Lidia zunächst sehr glücklich zu sein, doch nach einem ersten Wiedersehen mit Anna und Sandro nach längerer Zeit kommen in ihm Zweifel auf, ob diese neue Beziehung nicht am Ende zu unverbindlich und offen sei und er nicht doch zu seiner Familie gehöre. Er kehrt zu Vanda zurück, und wir sehen sie dreieinhalb Jahrzehnte später noch immer zusammenlebend und noch immer genauso lieblos und distanziert wie zuvor, noch immer steht Lidia und viel Unausgesprochenes zwischen ihnen und wird sich auch nicht überwinden lassen. Eines Tages wird ihre Wohnung in Rom vollkommen verwüstet, und erst in der letzten Sequenz, die die beiden erwachsenen Geschwister Anna und Sandro zeigt, erfahren wir, wie es dazu kam.

   Ein sehr bitterer Film, der so richtig weh tut, mir jedenfalls. Wut, Verzweiflung, Frustration sind die vorherrschenden Emotionen hier, und ich habe lange keinen Film mehr erlebt, der mich so intensiv hat mitfühlen und -leiden lassen. Die Zerstörung einer Familie, deren Ausgangspunkt sicherlich schon irgendwann vor den gezeigten Ereignissen liegt, die aber trotzdem durch Aldos neue Liebe zu Lidia rapide voranschreitet und eigentlich nur Opfer und Verlierer hervorbringt. Aldos männliche Egozentrik und völlig fehlende Empathie sind ebenso abstoßend wie Vandas zunehmend abwegiger Psychotrip, der nicht minder egozentrisch wirkt, denn auch sie nimmt auf die Gefühle ihrer Kinder kaum Rücksicht. Luchetti bricht seine Erzählung nach einer halben Stunde oder so abrupt auf, schneidet kurze Episoden aus zwei Zeitebenen in rascher Folge hintereinander und erzeugt damit bei mir ein Gefühl zunehmenden Unbehagens und zunehmender Spannung. Großartig umgesetzt ist die Idee, das ältere Ehepaar die ganze Geschichte der dazwischen liegenden Jahrzehnte praktisch ohne Worte erzählen zu lassen – allein in Aldos und Vandas Körperhaltung und Mimik lese ich ab, wie die beiden wohl zusammen gelebt haben werden. Sie ist der personifizierte Vorwurf, der sich für immer in stille Verachtung und Verbitterung hüllt, er ist ganz passive Resignation, aufreizend ruhig und gottergeben, so, als wolle er für seine Verfehlung auf diese Weise büßen. Ätzend, auf den Punkt inszeniert und brillant gespielt. Noch schlimmer aber ist jene Abschlusssequenz, in der die beiden Geschwister zunächst ganz absichtslos das Haus ihrer im Urlaub befindlichen Eltern hüten, die Katze füttern und nach dem rechten sehen. Allein ein kurzer Blick auf Giovanna Mezzogiorno als erwachsene Anna erzählt schon die ganze Geschichte, ohne dass sie ein einziges Wort sagt. Wenn die beiden dann aber zu reden beginnen, wird das ganze Ausmaß der nie wieder gut zu machenden Schädigung noch viel deutlicher: Genau wie sein Vater kann Sandro offenbar auch keine dauerhafte Beziehung führen, sondern hast mehrere Kinder mit mehreren Frauen und wirkt dabei nicht gerade glücklich. Und genau wie ihre Mutter hat sich Anna eine fiese Form der passiv-aggressiven Frustration angeeignet, ist scheinbar nicht in der Lage oder nicht bereit, sich auf eine eigene Familie einzulassen und verfolgt bis ins Detail genau die gleichen fieberhaft-obsessiven Gedankengänge wie ihre Mutter. Zutiefst verbittert erinnert sie ihren Bruder an jene Schnürsenkelepisode (auf die der italienische Originaltitel anspielt), die nach ihrer Lesart das ganze fast schon vergessene und bewältigte Unglück wieder hervorgeholt und neu aufgewärmt hat und damit direkt verantwortlich ist für ihrer beider Misere. Die Folge: Sie verwüsten die Wohnung ihrer Eltern, den Ort ihres früheren Leids, steigern sich in wilde Zerstörungswut, die all das entlädt, was sich vierzig Jahre lang aufgestaut hat und nicht verarbeitet werden konnte. Ein überaus beklemmender Ausklang eines beklemmenden Films, der die Extreme nicht fürchtet, der aber dennoch stets engen Kontakt zur Realität hält, was ich als besonders wichtig und gut empfunden habe, denn so gerät die Geschichte niemals in Gefahr, in banale Kolportage auszuarten. Die komplexe Erzählstruktur, die aufmerksame, kompromisslose Regie und die tollen Schauspieler sorgen dafür, dass dieses erschütternde Familiendrama auf höchstem Niveau leise mit etwas lauteren Tönen mischt und zwischen zwei Zeitebenen eine seltene Spannung entstehen lässt.

 

   Neun Jahre ist es her, seit ich den letzten Film von Daniele Luchetti hierzulande zu sehen bekam, und dieser hier ist immerhin auch schon vier Jahre alt. Mal sehen, wann es wieder soweit sein wird…˜˜˜˜˜ (20.6.)