Bird von Andrea Arnold. England, 2024. Nykiya Adams, Barry Keoghan, Franz Rogowski, Jason Buda, James Nelson-Joyce, Rhys Yates, Joanne Matthews, Jasmine Jobson, Frankie Box

   Bailey ist zwölf, und ihr Leben ist nicht gerade eine blühende Landschaft: Sie lebt bei ihrem Chaotendaddy, der eine neue Freundin hat und sie heiraten wird, zusammen mit ihrem Chaotenbruder, der in einer ruppigen Gang abhängt und eine Freundin aus besseren kreisen hat, weswegen das Ganze auch nichts wird. Ihre Ma wohnt woanders mit einem neuen Freund, einem gewalttätigen Arsch, und drei weiteren Kindern, die vor Angst halbwegs verstummt sind. Dann lernt sie einen komischen Kerl kennen, der sich Bird nennt, offenbar aus der Gegend stammt und nach seiner Familie sucht. Nach anfänglichem Misstrauen freundet sie sich mit ihm an, und er rettet sie am Ende vor Mas brutalem Freund, als er sich plötzlich in einen Vogel verwandelt und den Schläger einfach davonträgt. Auch auf Dads Hochzeit taucht er noch einmal auf, um ihr zu sagen, sie solle keine Angst haben und alles werde gut werden. Und am Schluss hat sie dann Vogelaugen, genau so wie er.

 

   Coming of age in denkbar trister Umgebung, Selbstfindung zwischen Brachen, Sozialwohnungsbau und vermüllten Grünflächen, eine interessante Mischung aus Sozialdrama und magischem Realismus, wobei mich letzterer zunächst eher irritiert hat, doch als ich später nochmal drüber nachdachte, fand ich genau diesen Dreh ganz reizvoll. Die Figur des Bird ist dadurch auf vielfältige Weise interpretierbar, bis dorthin, dass Bird möglicherweise ein reines Phantasieprodukt ist, sozusagen Baileys imaginärer Retter, ihre Brücke in eine andere, bessere Welt. Die hätte sie auch wirklich dringend nötig, denn ihre reale Welt ist alles andere als friedfertig und leicht zu ertragen. Zwei halbwegs kaputte Familien, häusliche Gewalt, Dads skurrile Drogengeschäfte (eine Kröte, deren Schleim angeblich Halluzinogene enthält, und den sie bevorzugt zu Schmalzmusik à la Coldplay absondert…) und ihre eigene, sich von fern unaufhaltsam nähernde Sexualität ergeben eine sehr beunruhigende und bedrohliche Mischung, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint, es sei denn, man bemüht die Imagination, und womöglich ist es genau das, was Bailey schließlich tut, mit dem Resultat, dass ein teilweise doch höchst realer Bird auftaucht. Andrea Arnold hat das mit viel Einfühlungsvermögen inszeniert und besonders viel Wert auf die Milieuschilderungen gelegt, die ihr dann auch entsprechend authentisch und drastisch gelungen sind. Die Kamera holpert und wackelt wie zu besten Dogma-Zeiten (sodass ich diesmal meinen Platz weiter vorne schnell bereut habe), das Sounddesign ist sehr effektvoll, die Schauspieler sind großartig, allen voran die junge Nykiya Adams in einer sehr anspruchsvollen, den gesamten Film tragenden Hauptrolle. Mir ist der Film ein wenig zu lang geraten, vor allem nach hinten raus, wenn sich Birds Spurensuche ein wenig zu stark in den Vordergrund schiebt, während Baileys Dad erst ganz zum Schluss ein paar substantiellere Sätze zu sagen hat, die andeuten, dass er durchaus mehr ist als nur ein durchgeknallter Säurekopf. Manchmal alles in allem vielleicht ein bisschen dick aufgetragen und ausufernd, abgesehen davon aber dennoch eindrucksvoll und stark inszeniert, ist dies ein Film aus England, wie er in den letzten Jahren leider sehr rar geworden ist, und ich würde mir natürlich wieder mehr davon wünschen, zumal die Brits da einfach eine tolle Tradition haben – nur muss sie auch gepflegt werden… ˜˜˜˜» (26.2.)