Ainda estou aqui (Für immer hier) von Walter Salles. Brasilien/Frankreich, 2024. Fernanda Torres, Selton Mello, Luiza Kozovski, Valentina Herszage, Bárbara Luz, Cora Mora, Guilherme Silveira, Antonio Saboia, Olivia Torres, Marjorie Estiano, Maria Manoella, Gabriela Carneiro da Cunha, Fernanda Montenegro
Eine Familie und die Militärdiktatur, Vater, Mutter, fünf Kinder, Rio de Janeiro 1970. Folter, Mord, Willkür, Gewalt, Angst und Schrecken, Menschen werden geholt, verschwinden für immer, ohne Nachricht an die Familien, zigtausende sterben, und nur wenige haben den Mut und die Kraft, dem faschistischen Terror standzuhalten, Aufklärung zu fordern. Als Rubens Paiva abgeholt wird und seine Frau Eunice ebenfalls tagelang festgehalten, eingeschüchtert, erniedrigt, bedroht wird, scheint dies nur ein Schicksal unter sehr vielen in Südamerika in diesem fürchterlichen Jahrzehnt zu sein. Doch Eunice kehrt zurück nach Hause zu ihren Kindern, wird bald darauf die Stadt verlassen und nach São Paulo ziehen, und sie wird fünfundzwanzig Jahre lang nicht locker lassen, solange, bis sie endlich eine Sterbeurkunde ihres Mannes in den Händen hält und damit gleichzeitig eine Art Schuldeingeständnis. Sie ist in der Zwischenzeit eine bekannte und renommierte Anwältin geworden, die sich besonders für die Rechte der indigenen Bevölkerung einsetzt, aber sie hat ihr eigentliches Ziel niemals aus den Augen verloren. Und obwohl einige der Kinder mittlerweile weit verstreut leben, gibt es immer diesen starken Zusammenhalt zwischen ihnen, auch weitere zwanzig Jahre später, als die hochbetagte Eunice schon lange alzheimerkrank ist und bei einem der jährlichen Familientreffen noch einmal einen kurzen wachen Moment erlebt, als nämlich ein Bild ihres Mannes groß im TV zu sehen ist in Erinnerung an die grausamen Verbrechen während der über zwanzig Jahre herrschenden Diktaturregimes in Brasilien.
Ein buchstäblich herzzerreißender, wahnsinnig intensiver, gefühlvoller und bewegender Film, der über zweieinviertel Stunden einen derart dichten atmosphärischen und emotionalen Sog erzeugt, wie ich es nur selten im Kino erlebe. Salles konzentriert sich gar nicht auf Eunices langen Weg durch die Instanzen in ihrem Kampf für die offizielle Bestätigung des Mordes an ihrem Mann, er konzentriert sich auf die Familie, bleibt die ganze Zeit über ganz nahe bei ihnen, begleitet sie zunächst durch unbeschwerte Momente im sommerlichen Rio, dann durch die schlimmen Tage der Angst und Unsicherheit, der Belagerung, des Terrors. Er beschränkt sich vor allem niemals darauf, sie als Opfer zu zeigen, obwohl sie dies natürlich auf vielerlei Weise werden. Er zeigt sie immer als Menschen, lebendig, stark, überlebensfähig. In vielen langen, faszinierend detaillierten Szenen wird ihr Zusammenleben als Familie gezeigt, und ohne viel Worte verstehen wir sofort, wo ihr Zusammenhalt wurzelt. Vor allem Eunices Entschlossenheit kommt enorm stark herüber, sie will nicht zusammenbrechen, sich nicht fallenlassen, sich nicht abfinden damit, dass ihr Mann einer der vielen tausend Verschwundenen bleibt, sie will den Staat, und wenn es auch nicht mehr dasselbe Regime ist, zu einem Geständnis herausfordern, und zwar in aller Öffentlichkeit. Ihr Sieg gegen das Schweigen der Bürokratie hat einen hohen symbolischen Wert als Signal gegen die Ohnmacht der Terroropfer, gegen die Hilflosigkeit der Ausgelieferten. Es gibt einige südamerikanische Filme über die Grausamkeiten der Militärdiktaturen in den verschiedenen Ländern, aber ich habe noch keinen gesehen, der mich persönlich so beeindruckt hat, wie dieser. Salles‘ Inszenierung ist grandios, genauso wie die vielen Darsteller, aus denen Fernandas Torres natürlich noch einmal herausragt. Ein unvergesslicher Film und ein großartiges menschliches Statement. (19.3.)